Vom Wachstum des Orchesters zur heutigen Grösse
Wachstum
Um die 100-jährige Geschichte des Vereins abschliessen zu können, gilt es nun wieder zum streng historischen Ablauf zurückzukehren. Die kurze Zeit, in welcher Alois Koch den Orchesterverein musikalisch leitete, liess die Mitglieder erahnen, wohin die Zukunft des Orchesters führen könnte. In den Konzertkritiken ist denn auch die Rede von «eindrücklicher Leistung», «gereifter Wiedergabe» und «den Fortschritten der Streicher gegenüber früheren Jahren».
Bei der Auswahl hat sich Koch an das Bewährte gehalten und hat für die Konzerte Werke des Barocks, der Klassik und der Frühromantik ausgewählt. Mit Kurt Pahlens «Impresiones sudamericanas» und der Suite für Orchester von Gerhard Maasz studierte er jedoch auch zwei zeitgenössische Kompositionen ein. Wenn sie auch nicht gerade zur Avantgarde zu zählen sind, so brachten sie doch allen in Ansätzen moderne Kompositionstechniken näher.
Besonders gerühmt wurde in den Kritiken der weise Entscheid von 1972, das Stanser Orchester mit jenem von Buochs für konzertmässige Auftritte zu einem Klangkörper zu vereinen. Die beiden Orchester brachten damals 28 Streicher (elf erste und zehn zweite Violinen, drei Bratschen, drei Celli, einen Bass) sowie je zwei Oboen, zwei Querflöten und zwei Fagotte aus eigenen Reihen auf. Zusammen mit weiteren Bläsern vereinigten sich im Jahre 1974 ganze 45 Musikerinnen und Musiker zum Konzert, wie Präsident Karl Odermatt in seinem Jahresbericht mit sichtlichem Stolz vermerken konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man weder in Stans noch in Buochs je über ein so starkes Orchester verfügt, ja nicht einmal davon träumen können.
Wie innerlich stark das Orchester geworden ist, zeigt die Tatsache, dass es nach der Demission von Alois Koch im Sommer 1974 zu keinem Rückschlag gekommen ist, obwohl man vorerst keinen neuen Dirigenten fand. Trotzdem wurden zwei Konzerte gegeben, das erste mit dem Gemischten Chor Stans und das zweite mit dem Kirchenchor Buochs je am vierten Adventssonntag der Jahre 1974 und 1975, wobei die Aufführung in Stans von Hans Schmid, jene in Buochs von Max Stengele dirigiert worden ist.
Auf Anfang 1976 kann die «Nidwaldner Orchestervereinigung» in Thomas Gmür einen neuen Leiter engagieren. Er setzt die Arbeit dort fort, wo Alois Koch aufgehört hat. Dies gilt sowohl für die Schulung als auch für die Kompositionsauswahl. Thomas Gmür dirigierte bis zu seinem Rücktritt Ende 1985 insgesamt zwölf Konzerte. Sechs davon waren geistlichen Werken gewidmet, wobei die Aufführung des Oratoriums «Die Israeliten in der Wüste» von Carl Philipp Emanuel Bach im Jahre 1980 als besondere Leistung hervorsticht. Insgesamt scheint es aber dem Dirigenten vor allem dessen Vater Johann Sebastian Bach angetan zu haben. Bachsche Musik taucht nämlich in sieben Konzertprogrammen auf. Ausser Vater und Sohn Bach kamen Boccherini, Gabrieli, Grieg, Händel, Mendelssohn, Mozart, Nicolai, Purcell, Schubert, Telemann, Vivaldi und Weber zum Zug. Von Joseph Haydn führte das Orchester 1978 unter seiner Leitung die Symphonie in B-dur, Nr. 102, bereits zum zweiten Male auf, nachdem das Werk schon 1963 während der «Posthorniade» erklungen war. Nur ausnahmsweise tauchen mit Bruckner, Saint-Saëns, Bartok und Hindemith Namen des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts auf. Lebende Komponisten finden sich unter seiner Aegide überhaupt keine auf den Programmen.
Neuer Name
In Stans und in Buochs existierten immer noch zwei Orchester, die allerdings in der Öffentlichkeit kaum mehr als eigenständige Ensemble aufgetreten sind. In Inseraten und Programmen gab seit 1973 regelmässig die «Nidwaldner Orchestervereinigung» die Konzerte. Sie war es auch, welche die verschiedenen Chöre bei ihren grösseren Auftritten ausserhalb der Gottesdienste begleitete. Selbst bei den Orchestermessen, die eigentliche Domäne der lokalen Ensembles, halfen sich die beiden gegenseitig aus.
Fragte man aber nach dem Vorstand der Vereinigung, so stellte man erstaunt fest, dass es gar keinen gab. Streng rechtlich im Sinne des Zivilgesetzbuches existierte die Orchestervereinigung nicht. Der ganze Geschäftsverkehr inklusive Finanzen wurde nämlich trotz gemeinsamer Proben und Auftritte weiterhin über die Vorstände beider Vereine abgewickelt. Natürlich erschwerte dies die Tätigkeit massiv, mussten doch die anfallenden Geschäfte in zwei bzw. vier verschiedenen Gremien (Vorstand und Mitgliederzusammenkünften beider Vereine) beraten und beschlossen werden, ein Umstand, den Max Leuthold in seiner zweiten Präsidialzeit (1976 – 1982) immer wieder an den Generalversammlungen in Erinnerung rief und den Neumitgliedern zu erklären suchte.
Obwohl der Zusammenschluss für beide Vereine das Beste gewesen wäre, kam es trotz verschiedener Anläufe nicht dazu. Das Buochser Orchester zierte sich, seine Selbständigkeit aufzugeben. «Weil es ihnen aus gesellschaftlichen und traditionellen Gründen daran liege, ihren Verein nicht aufzulösen», wie Josef Achermann 1982 als Sekretär nach Stans schrieb, fiel eine Fusion aus Abschied und Traktanden. Denn die Stanser wollten nach den Worten des Präsidenten Klaus Korrodi nicht mehr länger ein dem Namen nach nur auf den Kantonshauptort eingeengtes Orchester sein. In Wirklichkeit hatte die Ausweitung über die Dorfgrenzen hinaus schon seit einiger Zeit stattgefunden. Bei der Annahme der neuen Bezeichnung «Orchesterverein Nidwalden» am 14. Januar 1983 wohnten von den 34 Aktivmitgliedern nur zwölf in Stans selber, die übrigen verteilten sich auf die andern Nidwaldner Gemeinden (ausser Wolfenschiessen, Dallenwil und Stansstad waren alle vertreten). So vollzog man mit der neuen Namensgebung nur, was eigentlich schon seit längerem Wirklichkeit gewesen ist.
Die Generalversammlung 1983 bedauerte es sehr, «dass sich Buochs nicht zum Mitmachen entschliessen konnte», und formulierte wortwörtlich, dass trotz dem jetzigen Abseitsstehen «Mitspieler aus Buochs immer herzlich willkommen» seien. Die Fortführung der bisherigen Zusammenarbeit sah man aber nicht mehr als sinnvoll an. Was ungesagt blieb, aber von manchen gedacht wurde, sollte später Wirklichkeit werden. Der Orchesterverein Buochs hatte auf sich allein gestellt keine Überlebenschancen und löste sich im Frühjahr 1995 auf.
Auf Erfolgskurs
Nach der Demission von Thomas Gmür übernahm Martin Schleifer zuerst interimistisch und ab 1987 definitiv die musikalische Leitung. Ohne zu übertreiben und ohne die Leistungen anderer schmälern zu wollen, darf man wohl sagen, dass die gegenwärtige Hochform des Orchesters, die im Verlaufe der hundertjährigen Geschichte bisher weder quantitativ noch qualitativ je erreicht wurde, vor allem ihm zu verdanken ist.
Als Martin Schleifer den Dirigentenposten übernahm, besass der Orchesterverein 30, heute sind es über 59 Aktivmitglieder. Hinzu kommen noch sieben ständige Mitspieler. Dass mit einer solchen Anzahl Laienmusikerinnen und -musiker auch Werke der Romantik aufgeführt werden können, die eine grosse Besetzung verlangen, liegt auf der Hand. So standen in den letzten Jahren neben Kompositionen des Barocks und der Klassik auch immer wieder solche von Georges Bizet, Anton Bruckner, César Frank, Charles Gounod, Eduard Grieg, Max Reger, Jean Sibelius, Peter I. Tschaikowskij und Guiseppe Verdi auf dem Programm. Selbst die Moderne fehlte nicht und war mit den Schweizern Caspar Diethelm und P. Reinhard Peter vertreten, wenn auch etwas stiefmütterlich. In zwei Konzerten kehrte Martin Schleifer ganz bewusst zu den frühen Programmen des Orchesters zurück: im Wiener Abend vom 26. Oktober 1986 und im Nostalgiekonzert zu Beginn des Jubiläumsjahres am 11. und 12. Januar 1998. Wenn es überhaupt erlaubt ist, aus den zahlreichen Höhepunkten (in der Zeit des Dirigats Schleifers trat das Orchester bis heute an 19 Konzerten auf) den einen oder andern besonders zu erwähnen, so waren dies aus persönlicher Sicht das geistliche Konzert anlässlich des Zentralschweizerischen Gesangsfestes im Jahre 1997 sowie das Herbstkonzert von 1992 und das Neujahrskonzert von 1996, von dem in der «Neuen Nidwaldner Zeitung» zu lesen war: «Der Orchesterverein Nidwalden wuchs über sich selbst hinaus und sicherte den Werken eine wirklich eindrückliche Wiedergabe. Kein Wunder, dass der Beifall kein Ende nehmen wollte.» Dem ist nur noch beizufügen, dass der Rezensent weder übertrieben noch in Rücksicht auf das Laienorchester (wie sonst die Regel) das Konzert besonders wohlwollend besprochen hat. Der Abend war für alle ein Ereignis.
Diese qualitative Steigerung des Orchesters kommt nicht von ungefähr. Martin Schleifer erwartet von seinen «Pappenheimern» einen regelmässigen Probenbesuch. Es ist für ihn auch selbstverständlich, dass die einzustudierenden Werke daheim geübt werden. Wenn es notwendig ist, scheut er sich auch nicht davor, einzelnen Musikerinnen oder Musikern eine Vertiefung im Instrumentalspiel freundschaftlich anzuraten. Etliche haben denn auch bei ihm Unterricht genommen. Dazu kommen die angenehme Probenarbeit, die angestrebte Spielkultur, die Identifikation mit Orchester und Werk und seine Art, alle Beteiligten mitreissen zu können. Martin Schleifer forderte in all den Jahren, aber er überforderte niemand. Darin dürfte das Rezept für den heutigen Erfolg des Laienorchesters liegen.
Natürlich kann eine solche Leistung nicht ohne viel guten Willen der Mitglieder und nicht ohne Beihilfe des Vorstandes erbracht werden. Unter den Präsidien von Klaus Korrodi, Carlo Durrer und Vreni Niederberger leistete letzterer aktive Unterstützung. Das Umfeld stimmte, die Mitglieder konnten sich voll auf das Musikmachen konzentrieren.
Das Orchester hat in den vergangenen hundert Jahren zahlreiche Hochs und Tiefs erlebt. Zwischendurch ist es einmal sogar ganz von der Bildfläche verschwunden, um dann wie Phönix aus der Asche wieder aufzuerstehen. Viele Menschen, von denen die wenigsten namentlich genannt werden konnten, haben mitgeholfen, dass der Verein über alle Schwierigkeiten hinweg in die Jahre kam, heute so jugendlich frisch dasteht und froh, aber auch mit Stolz in die Zukunft blicken kann. Im Verlaufe der Zeit hat das Orchester eine Menge schöner Musik produziert. Es hat dabei nicht nur sich selbst ergötzt, sondern auch dem Teilnehmerkreis an den Festgottesdiensten in der Kirche, den Theaterbesucherinnen und -besuchern im Musentempel an der Mürg und der Zuhörerschaft an den verschiedenen Konzerten, Serenaden sowie anderen Freiluftmusiken viel, viel Freude bereitet. Dafür sei dem Jubilaren Dank gesagt und der Wunsch angeschlossen, dass dies noch lange so bleiben möge.