Von Freud und Leid im Orchestergraben
Theatermusik
Der Orchesterverein, so haben wir gesehen, wurde seit der Inszenierung der Märchenoper «Das Zauberschloss» immer wieder von der Theatergesellschaft Stans engagiert, sei es nur für die Zwischenaktmusik oder aber als Begleitklangkörper in Stücken mit Gesang. «Fabiola» wurde bereits erwähnt. Ein Jahr darauf, 1903, erfreute das «flott dirigierte Orchester» im Märchen «Aschenbrödel» mit «anmutigen Kinderreigen, zwei weiteren Tänzen und dem vornehmen, graziösen Tanz der Damen und Herren am Hofe» die Zuschauer. Dazwischen erklangen, wie der Rezensent zu berichten weiss, «stimmungsvolle und ansprechende Weisen». Dass 1904 im Volksstück «Die Lieder des Musikanten» das Orchester auch wieder zu seinem Auftritt kam, garantierte schon der Titel. «Und in all diesem fröhlichen Treiben und in den düsteren Stunden erklingen die Lieder Lebrechts, des fahrenden Musikanten, bald in ernsten, heiteren Melodien, bald in milden, ergreifenden Tönen.» Über die Leistung des Orchesters steht diesmal nichts in der Zeitung. Dafür erhält es im folgenden Jahr für seine Mitwirkung in «Dr. Faust’s Hauskäppchen» einen vollen Lorbeerkranz.
Die Protokolle schweigen ja darüber, was vom Verein zwischen den einzelnen Akten gespielt wurde. Dagegen seufzen sie oft über die Mühen dieser Auftritte. Sie stellten über lange Zeit für das Orchester ein notwendiges Übel dar, um zu den notwendigen Einnahmen zu kommen. Zumindest zweimal teilt wenigstens der Zeitungsberichterstatter mit, welche Zwischenaktmusik gespielt worden ist; natürlich nicht genau, aber eine ungefähre Vorstellung kann der Angabe doch entnommen werden. 1914, vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der bis 1920 die Pforten des Stanser Musentempels verschliesst, spielte der Orchesterverein zwischen den Bildern zum «Verschwender» von Ferdinand Raimund, «Brahms Musikeinlagen» und 1921 zum Dialektlustspiel «Wie d’Wahrheit wirkt» dann «Operettenmusik». Ob Weisen letzterer Art auch in den folgenden Jahren das Publikum erfreut haben, ist nicht überliefert. Indessen tönt der Niedergang des Klangkörpers durch, wenn es im «Nidwaldner Volksblatt» 1933 heisst: «Das Orchester besorgt mit bewährter Treue und Standhaftigkeit den musikalischen Teil durch diskrete Begleitung der gesanglichen Nummern und durch die Zwischenaktmusik.» Gegeben wurde damals «Der Bauer als Millionär», wieder von Ferdinand Raimund. Im folgenden Jahr legt der Rezensent den Mantel des Schweigens über die Leistungen des Vereins, obwohl das Volksschauspiel mit Musik und Gesang «Der Viehhändler aus Österreich» sicher reichlich Gelegenheit zu einem Lob geboten hätte. Doch gab es offenbar nichts zu loben. Danach schlief das Orchester bekanntlich ein, um 1939 für die Theater-Saison noch einmal kurz zu erwachen. Als Erwecker tätig waren damals die drei alten Mitglieder Franz Leuthold, Theodor Theiler und Anton Odermatt, die sich «mit Leib und Seele abmühten, das Orchester wieder in den Fluss zu bringen». Direktor Zelger kann die Probenarbeit und die Aufführungen aus Gesundheitsrücksichten nicht mehr dirigieren. Walter Gremminger springt für ihn in die Lücke. Gegeben wurde im Theater der «Überfall 1798» von Ignaz von Ah. Das «Nidwaldner Volksblatt» schwelgt, liegt aber mit seiner Prognostik eindeutig falsch: «Glücklich unterstreicht das neu erstandene Orchester unter Leitung von Direktor Gremminger das seelische Geschehen von Stufe zu Stufe.» Von Wiedererstehen kann freilich keine Rede sein, richtiger wäre wohl eher von einer «Totenbesserung» zu sprechen.
Operettenzauber
Wie schon während des Ersten so wurde auch während des Zweiten Weltkrieges die Stanser Bühne nicht bespielt. Darum konnten die Theaterbesucher auch nicht merken, dass sich der Orchesterverein im März 1939 endgültig schlafen gelegt hatte. Sie registrierten aber auch seinen Erwachungskuss aus dem Dornröschenschlaf im Jahre 1942 nicht. Und wohl nur ein kleiner Teil nahm 1947 mit dem Berichterstatter im «Nidwaldner Volksblatt» die Verjüngungskur wahr, welche das Orchester in der Zwischenzeit durchgemacht hatte.
Vorerst blieb das Repertoire der Stanser Bühne das Alte. Mit Ferdinand Raimunds «Der Verschwender» eröffneten die Spielleute die neue Theater-Aera, um sie 1948 mit dem «Meineidbauer» von Ludwig Anzengruber im gewohnten Rahmen fortzusetzen. Für beide Produktionen übernahm das Orchester die Zwischenaktmusik und die Begleitung der Lieder, Couplets und Chöre. «Mit gemüthvollen, unbeschwerten Weisen hebt das Orchester an», weiss das «Volksblatt» 1948 zu berichten, während der «Unterwaldner» 1947 schwelgt: «Gleich zu Beginn nimmt uns die Musik gefangen und trägt uns in eine glückliche Sphäre, in eine Epoche, in der die Phantasie noch Zeit fand, eine Märchenwelt aufzubauen. Und die Töne der Musik führen uns in das bunte und fröhliche Spiel auf der Bühne.»
Im Jahre 1949 wagen die Stanser den Schritt vom Spiel mit Musik und Gesang zur Operette. Wenn Arth, Sursee und Roth mit ihr so grosse Erfolge erzielen konnten, warum sollte sie hier nicht auch ein volles Haus bringen. Die Voraussetzungen waren optimal. Mit Heinz Hindermann besass man einen Dirigenten, dem die Operette lag und der musikalisch alle mitreissen konnte, in den beiden Stanser Chören fanden sich genügend Stimmen für den Theaterchor, aus der Feldmusik kamen ergänzende Bläser hinzu, die damals im Orchester immer noch Mangelware darstellten, für das Ballett stellten sich die Tanzfreudigen ein, unter den Spielern der Theatergesellschaft gab es manche Kraft, die auch als Sängerin oder Sänger solistisch eingesetzt werden konnte und in Klara Süess und Max Hermann fand sich sängerisch, darstellerisch und als Augenweide die ideale Besetzung für das junge Liebespaar, ohne das die Operette ja sonst nur ein halber Spass ist. Zusammen mit der Bühnenmannschaft und den anderen hinter den Kulissen tätigen Helfern, Helferinnen wuchs die Theaterfamilie in einzelnen Operettenproduktionen bis zu 150 Personen an. Wieviel Fröhlichkeit, Freude, Gemeinschaftssinn und persönliche Befriedigung dabei entstanden ist, wurde leider nirgends aufgeschrieben. Eher liest man bisweilen von grossen Aufregungen und kleineren Intrigen. Diese waren aber nach dem grossen Erfolg bald vergessen. Neben den Aufführungen selbst stellten die danach erlebten Stunden im Theaterkeller oder sonst wo an einem lauschigen, gemütlichen Ort Höhepunkte einer jeden Saison dar. Und so kommt noch heute beim Erzählen ein schwärmerischer Glanz in die Augen, wenn darüber von den damaligen Aktricen und Akteuren berichtet wird. Dies gilt selbstverständlich auch für die Mitglieder des Orchestervereins. Es muss eine schöne, beglückende Zeit und ein grosses Gemeinschaftserlebnis gewesen sein, diese zwanzig Jahre, in denen zu Stans in schöner Regelmässigkeit Operette gespielt worden ist, auf deren Premieren das halbe Dorf vom Herbst an entgegen gefiebert hat.
Gespielt wurden unter anderem 1949 «Die Landstreicher» von Carl Michael Ziehrer, 1959 «Alt Wien» nach Melodien von Josef Lanner, 1961 «Der Fremdenführer» wieder von Carl Michael Ziehrer, 1962 «Monika» von Nico Dostal, 1964 «Im weissen Rössl» von Ralph Benatzky, 1966 «Die goldene Meisterin» von Edmund Eysler und schliesslich 1968 «Der liebe Augustin» von Leo Fall. Einzelne Operetten wurden in Stans zum ersten Mal in der Schweiz aufgeführt. Vor allem Heinz Hindermann war es ein Anliegen, nicht Werke auf die Bühne zu bringen, die schon andernorts wiederholt gegeben worden sind.
Die Kritiken rühmen die Aufführungen. Dies darf uns allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass damit vor allem die Agierenden auf der Bühne gemeint waren. Über das Orchester berichten sie selten, am meisten noch über die «gute», «kompetente», «meisterhafte» oder «souveräne Stabführung» der Dirigenten. Nur einmal – leider – wird im «Unterwaldner» ausführlicher auf die Leistung der Musiker eingegangen: «Es bliebe noch die Würdigung des Orchesters. Bereits mehrfach wurde angedeutet, dass dieser voll und sicher spielende, gut instrumentierte Klangkörper als treibende Kraft dem heiteren Werke unter einer sicheren Stabführung sein bestes gibt. Die überquellende Fülle einschmeichelnder Melodien, die zarten Soli und die vollen Chöre haben an ihm sichere und zuverlässige Führung und Stütze. Mit solchen Kräften darf die Theatergesellschaft es ruhig wagen, die Operette in ihrem Spielplan beizubehalten. Denn hier meistern Solisten, Chor und Orchester ihre grosse und schwierige Aufgabe ausgezeichnet.» Chapeau!
In der persönlichen Erinnerung eines sich damals im pubertären Trotzalter befindenden Kollegiumsschülers (und das mag ihn entschuldigen) blieben allerdings auch Eindrücke haften, die zaghaft mit Sätzen wie «man müsse bei hohen Läufen der Geigen hin und wieder ein Ohr zudrücken» oder beim «lieben Augustin» das Orchester bringe «es zu einem so feinen Spiel, dass auch die Sänger gut verstanden werden», als Kritik aufscheinen. Gewisse Stellen in der Partitur wurden von einzelnen Orchestermitgliedern regelmässig ersorgt, weil sie selten so gespielt werden konnten, wie es der Komponist vorgeschrieben hat. Der damalige Klangkörper stiess an seine Grenzen. Und je besser die Wiedergaben auf Schallplatten, im Radio oder im Fernsehen wurden, um so stärker wuchs die Erwartung, die von den Zuschauern an eine Operettenaufführung gestellt wurde. Mit der Zeit wurde der Aufwand so gross, dass beim Stanser Saalangebot das Geld mit Bestimmtheit nicht mehr eingespielt werden konnte. Und so entschloss sich die Theatergesellschaft im Jahre 1970, vorläufig keine Operetten mehr aufzuführen. Zupasse kam ihr, dass der Leiter des Orchestervereins, Rudolf Konrad Lienert, Stans demnächst verlassen wollte. Ob sein Nachfolger mit gleicher «Verve und Eleganz» im Theater dirigieren würde, das stand noch in den Sternen. Und nach diesen greift man bekanntlich.