Kapitel 2 – Wer die Musik nicht ehrt

Von den Anfängen des Vereins

Stans in der Zeit der Vereinsgründung. Ausschnitt aus dem Dorfmodell von Jakob Christen aus dem Jahre 1890

Vorgeschichte

Die Gründung des Orchestervereins geschah in Stans nicht aus heiterem Himmel, so als hätte es vorher keine Leute gegeben, die mit ihrer Stimme oder ihrem Spiel auf einem Instrument die Mitmenschen erfreut hätten. Ganz im Gegenteil, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Nidwalden eine grosse Blüte im Musikleben. Praktisch in jeder Gemeinde taten sich Sänger und Sängerinnen oder Musikanten in Vereinen zusammen, um mit Auftritten das Dorfleben zu bereichern. Dazu erklang aus vielen Stuben Hausmusik: Diverse Arrangements aus Oper und Konzert, für kleine Besetzung umgeschrieben, sorgten dafür, dass Kompositionen, die sonst nur in den Städten zu hören waren, auch auf dem Lande unter die Leute kamen. Von ihnen allen zu berichten würde den Rahmen des Buches sprengen. Darum sollen einige allgemeine Hinweise genügen, um Tradition und Umfeld abzustecken, in denen sich die Gründung des Stanser Orchestervereins vollzogen hat.

Die sogenannten Landesspielleute gehören, seit es Protokolle über die Landsgemeinde gibt (1562), zu jenem Personenkreis, der Jahr für Jahr vom Landvolk gewählt oder bestätigt werden musste. Dabei handelte es sich, wie aus einzelnen Nachrichten hervorgeht, ausschliesslich um Pfeifer und Trommler, welche den Landsgemeindezug von Wil zum Wohnsitz des jeweiligen Landammanns, meistens nach Stans oder Buochs, anführten. Auch sonst hatten sie bei offiziellen Anlässen aufzuspielen. Zu einem Grossauftritt kamen sie bei der Bundeserneuerung der katholischen Orte mit dem Wallis, die 1756 in Stans stattfand. Da hatten sie alle ankommenden Boten der verschiedenen Stände bei ihrem feierlichen Eintritt auf das Rathaus zu begleiten, daneben während der Gastereien die Tafelmusik zu bestreiten.

Trommler und Pfeifer gab es aber nicht nur als Landesspielleute, solche besass jedes Dorf. Auch hier gehörte es zu ihren Aufgaben, Aufzüge und Prozessionen mit ihrer Musik zu verschönern. Aus diesem Grund führten sie auch alljährlich die Herren Schützen an, wenn sie sich nach dem Gottesdienst auf den Weg zum Schiessplatz machten.

Die Tatsache, dass es in der Nähe der Pfarrkirchen öffentliche Tanzlauben gab, weist auf die beliebten Kilbitänze hin, für die es auch Musikanten brauchte. Mahnungen und Einschränkungen der Obrigkeit zeugen davon, wie ausgelassen es dabei oft zugegangen ist. Ob dafür die Musik, der Wein oder der Most die Hauptschuld trug, lässt sich nicht immer genau herausfinden. Wahrscheinlich haben alle drei nicht nur Herz und Füsse beflügelt, sondern hin und wieder auch die Köpfe. Raufhändel und Schlägereien zählten zu den unschönen Folgen einer solchen Entwicklung.

Von Musik durchwoben waren die Nidwaldner Gotteshäuser schon immer. Allerspätestens aber seit dem 17. Jahrhundert füllten nicht allein nur Choralgesänge und Orgelmusik die Räume, sie selber stellten in ihren reichen barocken Ausstattungen beschwingte Musik dar. Seit dieser Epoche hören wir auch immer wieder von Partisten, welche während des Gottesdienstes gesungen haben. Diese tauchen denn auch regelmässig in den Rechnungen der Kirchgenossen und der Herren Ürtner oder der Herren Dorfleute auf. Die Sänger werden sogar auf die Kreuzgänge mitgenommen, wofür sie besonders entschädigt wurden. Dies mag als Zeugnis dafür gelten, dass man ihren Gesang geschätzt hat. Freilich, mehrstimmige Messen, wie sie in Luzern, Engelberg oder Einsiedeln aufgeführt wurden, dürften sie kaum gesungen haben. Einzelne Hinweise lassen aber immerhin vermuten, dass sie, an hohen Feiertagen oder wenn eine Magistratsperson zu Grabe getragen wurde, einfache Lieder zwei- oder dreistimmig zur Aufführung brachten. Dies änderte sich erst, als im Verlaufe des 19. Jahrhunderts in einzelnen Pfarreien Kirchenchöre ins Leben gerufen wurden.

Wie Christian Schweizer gezeigt hat, durfte sich die Nidwaldner Orgellandschaft durchaus sehen lassen. In der Chororgel von Nikolaus Schönenbüel (1646) bekam Stans gar ein kleines Meisterwerk von nationalem Rang. Mit Vater und Sohn Z’Bären hielten sich hier auch zwei über die Regionalgrenzen hinaus anerkannte Organisten und Komponisten auf. Kirchenmusik hat also immer bei Festen und Trauerfeiern, aber auch an den gewöhnlichen Sonntagen eine Rolle gespielt und die Gläubigen in Freud und Leid begleitet.

Die Chororgel von Nikolaus Schönenbüel aus Alpnach vom Jahre 1646 in der Stanser Pfarrkirche mit dem himmlischen "Harfenäre", dem alttestamentlichen König David, neben der hl. Caecilia, Patron für Kirchenmusik.
Das Streicherensemble des Kollegiums St. Fidelis mit dessen Leiter Werner Z'Rotz im Zentrum (Violine) am Anfang des 20. Jahrhunderts. Z'Rotz gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Orchestervereins, war dessen 3. Präsident und später Ehrenmitglied.

Im Kapuzinerkloster pflegten einzelne Patres näheren Umgang mit «Frau Musica». So verwundert es nicht, wenn bisweilen berichtet wird, wie Schüler und Lehrer der Stanser Lateinschule miteinander in der sogenannten Klostermusik spielten und Schul- wie Klosterfeste mit ihren Aufführungen bereicherten. Diese Auftritte wurden später, das heisst nach dem Übergang der Lateinschule zum Kollegium, weitergeführt, wollten doch die Väter Kapuziner im musikalischen Bereich nicht hinter den Stiftsschulen der Benediktiner zurückstehen.

Tagebüchern des 19. Jahrhunderts kann entnommen werden, wie etwa die Familie Obersteg zusammen mit anderen Nidwaldner Honorationen die Hausmusik gepflegt hatte. In Nachrufen auf Verstorbene werden ihre schönen Stimmen gerühmt oder ihre besonderen Fertigkeiten, mit denen sie die Instrumente beherrscht hätten. Schliesslich ist hin und wieder in Stans und Buochs von eigentlichen Orchestern die Rede, die aber offenbar nur sporadisch aufgetreten sind. 1898 wird ausdrücklich festgehalten, dass seit 30 Jahren zum ersten Mal wieder eine Orchestermesse in Stans aufgeführt worden sei. 1876 wurde die Stanser Feldmusik aus der Taufe gehoben, deren Gründung Nachahmung in anderen Gemeinden fand, zum Beispiel 1889 in Beckenried oder 1895 in Buochs. Fast gleichzeitig hatte sich der Männerchor Stans als Verein konstituiert. Aus einer losen Sängervereinigung entstand dann im November 1895 schliesslich der «Gemischte Chor». So lag die Gründung eines eigentlichen Orchestervereins in der Luft. Es brauchte dazu nur noch jemand, der den Anstoss gab.

Die Feldmusik Stans im Jahre 1879. Der dritte von links ist der Vater des Orchestermitbegründers Josef Zelger, Uhrenmacher Joseph Zelger (Klarinette). Vorne sitzend mit der kleinen Trommel Franz Baggenstos, der an der Gründungsversammlung vom 31. Mai 1898 wegen beruflicher Überlastung dem Verein nicht beitreten wollte.
Deckeletikette des ältesten Protokollbuches mit Einträgen von 1898 bis 1928.

Gründung

Der erste Eintrag im Protokoll des Orchestervereins beginnt mit der Nachricht, wie sich fünf Männer zusammengetan hätten, um zum Fasnachts-Tanz aufzuspielen. «Es war am Güdismontag, den 21. Februar 1898, als sich einige Musikfreunde zusammenfanden, um sich am Abend, nach der Generalversammlung der Gesellschaft des Kleinen Rates von Stans, mit einer Schundmusik zu produzieren. Es waren dabei: Lehrer Küchler, 1. Violine, Walter Z’Rotz, 2. Violine, Direktor Zelger, Bassgeige, Josef Flühler, Flöte, und Robert Deschwanden, Klarinette. Der Grundstein zum heutigen Orchester war also gelegt.» So einfach war dies. Freilich lässt die weitere Entwicklung bis zur Vereinsgründung vermuten, dass der Protokolleintrag das Geschehen recht verkürzt und unvollständig wiedergibt. Treibende Kraft scheint der unlängst zum Organisten und Leiter des Gemischten Chors gewählte Musikdirektor Josef Zelger (1876–1946) gewesen zu sein. Ihm war es ein Anliegen, über einen Klangkörper für die Orchestermessen zu verfügen, um nicht vor jeder Aufführung wie sein Vorgänger bei den einzelnen Instrumentalisten anhalten zu müssen. Recht clever fädelte er die Vorstufe zur Gründung mit einem Auftritt als Tanzkapelle ein.

Nachdem der Abend gut gelungen war, rief Zelger die Musikanten schon vier Tage später (man muss das Eisen schmieden, solange es heiss ist) zu einer Aussprache zusammen, zu der er noch sechs weitere Interessenten einlud, nämlich Balz Flury (Klarinette), Josef Businger (Horn), Franz Leuthold (Horn), Josef Lussi (Posaune), Carl Gut (anstelle von Direktor Zelger als künftiger Bassgeigist, er erklärte sich bereit, das Spielen des Instruments zu erlernen) und Franz Baggenstos (Kesselpauke). Von einer Vereinsgründung war dabei immer noch keine Rede. Zelger versuchte vielmehr die Anwesenden für sein Projekt zu begeistern, an Ostern die Missa festiva in C-dur des Breslauer Domkapellmeisters Moritz Brosig (1815–1887) aufzuführen. Und dies gelang ihm auch. Nun begannen intensive Proben, zweimal in der Woche. Zuvor musste Zelger allerdings die Partitur auf die zur Verfügung stehenden Instrumente umschreiben und die Bass-Stimme den noch bescheidenen Spielkünsten von Carl Gut anpassen. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, dass einer der beiden Klarinettisten kein eigenes Instrument besass. Um die Orchestermesse nicht zu gefährden, schossen alle Beteiligten zwölf Franken vor, um mit den 108 Franken eine Klarinette zu kaufen.

Die Aufführung im Hochamt vom 10. April gelang sehr gut. Das Nidwaldner Volksblatt weiss darüber zu rühmen: Der Gottesdienst «am hochheiligen Osterfeste erhielt dieses Jahr einen besonders feierlichen Charakter durch die Mitwirkung eines von Herrn Musikdirektor Zelger neu gegründeten Orchesters». Die Aussage über die Orchestergründung war etwas voreilig. Wohl war eine solche während der Probenarbeiten ins Auge gefasst worden, aber stattgefunden hatte sie noch nicht. Das «Volksblatt» fährt in der Berichterstattung mit dem Lob fort: «Gesang und Instrumentalmusik wetteiferten miteinander, in würdiger Weise den Gottesdienst zu verherrlichen. Das Orchester zählt gute Kräfte und verrät eine ganz tüchtige Schulung schon bei diesem ersten Auftreten. Wir hörten darüber nur eine Stimme allgemeiner, freudiger Anerkennung.» Die positive Aufnahme ermunterte die Musiker, an Pfingsten zu einem zweiten öffentlichen Auftritt. Zuvor versuchte Direktor Zelger, das Orchester noch etwas zu verstärken. Vor allem der Streichersatz war doch recht dünn besetzt. Mit Josef Durrer, Franz Meyer und Ludwig Businger konnte er drei Violinspieler zum Mitmachen gewinnen, Conrad Deschwanden und Wilhelm Niederberger verstärkten die Bläser mit Flügelhorn und Trompete. Damit war das Orchester auf sechs Streicher und neun Bläser angewachsen. Laut Protokoll gelang auch die Messe an Pfingsten (29. Mai 1898) «ausgezeichnet», so dass man sich dahin «einigte, sich als Verein zu constituieren. Direktor Zelger liess ein Schreiben zirkulieren, worin er alle Mitwirkenden zu einer Versammlung im Hotel Stanserhof einlud. Diese fand statt am 31. Mai 1898, abends um acht Uhr». Sie ging als eigentliche Gründungsversammlung in die Annalen ein. Allerdings lagen bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Statuten vor. An der Zusammenkunft haben dreizehn Männer teilgenommen. Entschuldigen mussten sich Balz Flury, Walter Niederberger und Ludwig Businger.

Direktor Josef Zelger erläuterte nochmals ausführlich, warum die Bildung eines Orchestervereins notwendig sei. Nur so könne die regelmässige Probenarbeit gewährleistet werden, was die Voraussetzung für eine gute Aufführung sei. Die Anwesenden musste er nicht gross überzeugen, hatten sie ja die Richtigkeit dieser Aussage selber erfahren. So wurde die provisorische Gründung einstimmig beschlossen und ein Interimsvorstand gewählt, dem als vordringliche Aufgabe das Ausarbeiten von Statuten übertragen wurde. Dem Ausschuss gehörten an: Carl Gut als Präsident, Walter Z’Rotz als Sekretär, Josef Businger als Kassier und Josef Zelger als erster Direktor.

Anschliessend sollten sich alle Beitrittswilligen auf einem Bogen Papier für den Verein einschreiben. Dies taten auch zwölf. Der Paukist Franz Baggenstos hingegen erklärte, er könne aus beruflichen Gründen dem Verein nicht beitreten, weil er «erst abends spät von der Arbeit nach Hause» komme und «deshalb einen grossen Teil der Proben nicht mitmachen» könne. Schweren Herzens müssen die Übrigen diese Begründung gelten lassen. Mit dem besten Dank für die geleisteten Dienste wird er aus dem Verein verabschiedet, kaum dass er gegründet worden ist.

Die ersten Statuten des Orchestervereins. Handschrift des Kaufmanns Werner Z'Rotz, Vereinsaktuar von 1898 bis 1900. Ausschnitt aus dem Jahresberichtsbuch.

Wie oft der Interimsvorstand zusammengetreten ist, darüber schweigt sich das Protokoll aus. Auch die Proben scheinen vorerst nicht wieder aufgenommen worden zu sein, obwohl man am 31. Mai beschlossen hatte, deswegen alle Wochen zwei Mal zusammenzukommen, die Tage aber zu bestimmen unterliess. Dies geschah erst am 1. August 1898, nachdem man an diesem Abend die Statuten beraten, abgeändert und dann beschlossen hatte. Für heutige Ohren tönen sie etwas eigenartig, so etwa, wenn es in Paragraph 1 heisst: «Nachstehend Unterzeichnete bilden den Orchesterverein». Tatsächlich haben bis 1926 alle später eintretende Mitglieder die Original-Statuten mit eigener Hand unterzeichnet und damit der Bestimmung Nachachtung verschafft. Paragraph 2 beinhaltet den Zweck des Vereins. Dieser ist klar auf die Kirchenmusik ausgerichtet. Denn nicht nur steht diese an erster Stelle, «profane» Musik pflegt man nur nebenbei. Wie ganz anders hatte es angefangen. Vom Aufspielen zum Tanze ist keine Rede. «Zweck des Vereins ist: Unterstützung des Kirchengesanges, und nebenbei Pflege entsprechender profaner Musik.» Paragraph 3 regelt, unter welchen Bedingungen Neumitglieder aufgenommen werden. Die Messlatte wurde dabei hoch angesetzt. Aktivmitglied kann sein, wer den musikalischen Anforderungen des Vereins zu genügen vermag, eine Kandidatur von vier Wochen oder zehn Proben zur Zufriedenheit des Vereins bestanden hat, einen unbescholtenen Leumund besitzt und bei der Abstimmung über seine Aufnahme eine satte Mehrheit von mindestens zwei Drittel der Stimmen erhält. Die beiden folgenden Paragraphen regeln die Proben. Pro Woche soll mindestens eine Probe stattfinden. Wer fehlt, hat eine Busse zu entrichten. Sie beträgt 20 Rappen. Wer bei einem offiziellen Auftritt unentschuldigt fernbleibt, zahlt je nach Vereinsbeschluss zwischen zehn und zwanzig Franken Busse, wobei als Entschuldigung in erster Linie nur Ortsabwesenheit oder Krankheit geltend gemacht werden können. Aus dem Verein austreten kann man (Paragraph 6), sofern man dies sechs Monate zuvor dem Vorstand schriftlich angezeigt hat und ausdrücklich auf das Vereinsvermögen und auf die allfälligen Beiträge für Anschaffungen oder Ausflüge verzichtet hat. Tritt jemand ohne vorherige Abmeldung aus dem Verein aus, so wird er dafür mit Fr. 5.– gebüsst. Bei der Festlegung der Anzahl Vorstandsmitglieder übernimmt man den Beschluss vom 31. Mai (Paragraph 7), wobei der Aktuar zugleich auch als Materialverwalter amtet. Die Amtszeit beträgt ein Jahr. Jedes Mitglied kann zur Übernahme einer Vorstands-Charge verpflichtet werden. Jedoch bei einer Wiederwahl kann sie der Betroffene ablehnen. Die jährliche Generalversammlung ist beschlussfähig, wenn mindestens zwei Drittel der Aktivmitglieder anwesend sind. Schliesslich enthalten die Statuten noch einen Passus über die Zusammenarbeit mit der Feldmusik Stans. Um diese zu fördern, «macht es sich der Orchesterverein zur Aufgabe, sowohl bei Festsetzung der Proben als bei Auswahl der Musik auf obige Rücksicht zu nehmen». Diese Bestimmung erklärt sich daraus, dass die Bläser auch Mitglieder der Feldmusik sind. Dieser aber war jahrzehntelang Josef Zelgers Vater als Dirigent vorgestanden.

Erste öffentliche Auftritte

Mit der Annahme der Statuten war die Vereinsgründung definitiv vollzogen. Direktor Zelger dürfte aufgeatmet haben, war doch nun das Wirklichkeit geworden, was er sich seit dem Antritt der Stelle als Leiter des Gemischten Chores gewünscht hatte. Für einen weiteren Auftritt des Orchestervereins anlässlich der Jahrhundertfeier des «Überfalls» hatte man ihn bereits angefragt. Es ist darum wenig verwunderlich, wenn Zelger noch an diesem Abend beantragte, vorerst – entgegen der Bestimmungen in den Statuten – an zwei Abenden pro Woche Proben durchzuführen, nämlich am Montag und Donnerstag, pünktlich um 20.15 Uhr. Es gelte für den 9. September 1898 ein Orchester-Requiem einzustudieren, zum Gedenken an die vor 100 Jahren gefallenen Nidwaldnerinnen und Nidwaldner. Die Anfrage ehrte den jungen Verein: Noch nicht richtig ins Leben gerufen und bereits zum Mitmachen in einem hochoffiziellen Anlass berufen, davon konnten auch damals andere Institutionen nur träumen.

Leider ist nicht überliefert, aus wessen Feder das Requiem stammte, das in Anwesenheit der gesamten Regierung, des Landrates, der Gerichte und von viel Volk in der Stanser Pfarrkirche aufgeführt wurde. Die Berichterstattung darüber ist dürftig. So müssen sich die Ausführenden mit der Meldung zufrieden geben, dass «die kirchlichen Gesänge» von ihnen «in würdiger, erhebender Weise ausgeführt» worden seien.

Zur Verschönerung eines weiteren Anlasses wurde der Orchesterverein auf den 23. Oktober in die Kirche aufgeboten: die Krispinianerbruderschaft konnte auf 300 Jahre ihres Bestehens zurückblicken. Sie beging dieses Ereignis mit einem Festgottesdienst, dem mit der Aufführung der Orchestermesse von Xaver Kirms der feierliche Rahmen gegeben werden sollte.

Alle diese gemeinsam aufgeführten Messen liessen beim Vorstand des Gemischten Chores den Wunsch wachsen, den Orchesterverein zu ihrem «Caecilien-Abend» am 22. November 1898 ins Hotel Winkelried einzuladen, «um nach altem Sängerbrauch das Fest der hl. Patronin in gemütlicher Weise abzuschliessen». An der Probe vom 7. Oktober beschloss letzterer, die Einladung anzunehmen und den Abend mit drei Musikstücken zu bereichern, nämlich mit der Mazurka «Das liegt bei uns im Blut», der Polka «die Schützenliesel» und der Phantasie «Die sibirische Post».

Inserat im "Nidwaldner Volksblatt" vom 31. Dezember 1898. Werbung für das erste Konzert des Orchesters.

Nach eigener Einschätzung im Protokoll fanden die drei Orchesterstücke «allgemein Beifall». Im Protokoll des gemischten Chores wird gar von «reichlichem Beifall» gesprochen. Der «Caecilien-Abend», zu dem übrigens auch der Männerchor geladen war, dauerte bis in den frühen Morgen, wobei eifrig getanzt und pokuliert wurde. «Nur zu rasch flog so Stunde um Stunde dahin. Schon wars elf Uhr, wo selbst die eifrigsten Tänzer und Tänzerinnen einen kräftigen Imbiss nicht verschmähten.» Entstand vielleicht bei dieser Gelegenheit, leicht beschwingt von den alkoholischen Getränken und etwas betört vom bisherigen Erfolg, die Idee, demnächst ein Konzert mit «profaner» Musik zu veranstalten? Jedenfalls wurde zwei Wochen später ein solches bereits beschlossen, wobei die Stückauswahl und der Termin bereits vorlagen: das Konzert sollte am Abend des 6. Januars 1899 aufgeführt werden. Weil aber das Repertoire noch etwas zu wünschen übrig liess, hatte man schon vorgängig Bertha und Esther Odermatt angefragt, ob sie zusammen im ersten Teil ein «Melodram» mit dem Titel «Enoch Arden» aufführen würden. Im Nidwaldner Volksblatt vom 31. Dezember 1898 wird das Konzert fast ein wenig reisserisch angekündet: «Wir machen an dieser Stelle auf das Concert des Orchestervereins am Dreikönigen-Abend im Hotel Stanserhof noch ganz besonders aufmerksam. Der junge Verein, der an allen grösseren kirchlichen Festen zur Verherrlichung des Gottesdienstes so vieles beiträgt und hierfür vor grossen persönlichen Opfern nicht zurückschreckt, verdient es vollauf, dass ein recht zahlreicher Besuch seines ersten öffentlichen Concertes ihm die allgemeine Sympathie der Bürgerschaft bekunde.»

Postkarte vom Hotel Stanserhof. Hier trat der Verein erstmals in einem Konzert öffentlich auf.

Mindestens 128 Besucherinnen und Besucher haben den Aufruf befolgt. Jedenfalls wurden so viele Eintritte zu einem Franken verkauft. Daneben erhielt aber noch jedes Orchestervereinsmitglied einen Gratiseintritt, so dass sich wohl über 140 Leute an den Darbietungen erfreut haben. Das Nidwaldner Volksblatt äusserte sich recht begeistert über den Abend: «Die ungemein ansprechende Deklamation von Fräulein Esther Odermatt und die stimmungsvolle Begleitung auf dem Piano durch Frau Verhörrichter Bertha Odermatt-Willimann» hätten «der prächtigen Dichtung so viel Leben und Farbe» verliehen, «dass sie auf die Zuhörer eine ergreifende Wirkung ausübte». «Der Orchesterverein selbst hat sich flott eingeführt. Ein geradezu stürmischer Beifall brach sich bei einzelnen Stücken Bahn.» Ausser den drei Stücken, welche schon am «Caecilien-Abend» aufgeführt worden sind, brachte der Orchesterverein den Marsch «Die siamesische Wachtparade», das Orchesterstück «Träumerei» und den Walzer «Weaner Madl’n» zu Gehör. Ganz besonders gefallen hat die «Träumerei», eine Komposition von Direktor Josef Zelger, deren Wiederholung mit frenetischem Applaus gefordert wurde. Aber auch einzelne andere Stücke mussten nach Protokolleintrag zweimal gespielt werden.

Hohe Pläne

Der bisherige Erfolg weckte neue, recht hochfliegende Pläne. Schon am 12. Januar 1899 wurde bei der Vereinsversammlung die Frage in den Raum gestellt, ob man nicht zusammen mit dem Gemischten Chor im Herbst eine Oper aufführen wolle. Wahrhaft ein kühner Gedanke, auch wenn dabei niemand an die grossen Bühnenwerke eines Berlioz oder Wagners dachte. Die meisten hielten den Einwurf ohnehin für einen Witz. Doch dem Fragesteller war es ernst. Er sprach solange davon, bis man beschloss, deswegen an die Kirchensänger zu gelangen. Letztere gaben am 21. Februar ihre Zustimmung zu einem solchen Projekt. Guten Mutes schritt man nun zur Ausführung. Doch vorerst hatte man die Rechnung ohne den Wirt, das heisst ohne die Theatergesellschaft gemacht. Sie erklärte nämlich auf die Anfrage klipp und klar, dass sie den Musentempel nur zur Verfügung stelle, wenn ihre Mitglieder am Projekt und die Gesellschaft am Reingewinn beteiligt seien. Dies stiess bei den beiden musikalischen Vereinen zuerst auf Unverständnis. So kam es zu einer längeren Auseinandersetzung, bis man schliesslich eine Einigung erzielte. Der Herbsttermin fiel durch diese Verzögerung natürlich ins Wasser.

Der Orchesterverein hatte mit den Opernplänen zwei Ziele verfolgt. Zum einen wollte er sich damit im Kreis der kulturellen Stanser Vereine weiter etablieren, zum andern aber die noch ziemlich leere Vereinskasse mit dem erwarteten Reingewinn etwas füllen. Die Verteilung des Erlöses, der zwar erst noch eingespielt werden musste, bildete denn auch den Hauptgrund für die Hinauszögerung einer Verständigung. Schliesslich war es der Gemischte Chor, der grosszügig auf einen Teil seiner möglichen Einnahmen verzichtete und damit den Weg zu einer Einigung frei gab. «In Anbetracht des Grundzweckes» der Opernproduktion wolle man «die etwas stiefmütterliche Behandlung des Gemischten Chores nicht beachten» und dem Verteiler (4/10 dem Orchesterverein, 4/10 der Theatergesellschaft und nur 2/10 für den Gemischten Chor) in Gottes Namen zustimmen, heisst es im Protokoll der Kirchensänger und -sängerinnen.

Originalprospekt zur Märchenoper "Das Zauberschloss" mit der Musik von Karl Detsch. Zusammen mit dem Gemischten Chor und der Theatergesellschaft wurde dieses Werk an der Fasnacht 1900 mit grossen Erfolg sieben Mal aufgeführt.

Aufgeführt werden sollte die Märchenoper «Das Zauberschloss», ein Werk, das ursprünglich für die Studentenbühne geschrieben worden war. Der am hiesigen Kollegium tätige P. Theobald Massarey hatte dabei als Textautor und der ebenfalls an dieser Schule angestellte Musikdirektor Karl Detsch als Komponist gewirkt. Wenn man dem überschwenglichen Lob, welches Isabelle Kaiser über das Werk ausgiesst (Opern von Richard Strauss scheinen wie Dreck dagegen), Glauben schenken will, so wundert es einem schon, weshalb das von «zwei kongenialen Künstlernaturen» verfasste «Zauberschloss» nicht auf weiteren Bühnen aufgeführt wurde, wie es die Rezensentin in der NZZ vorschlägt.

Werbepostkarte für die Märchenoper "Das Zauberschloss" von 1890.

In der ursprünglichen Fassung waren aus verständlichen Gründen keine Frauenrollen vorgesehen gewesen. Damals besuchten ja nur Burschen die Stanser Internatsschule. Für eine Aufführung in «Grossen Häusern» war dies ein Mangel. Darum sollte eine Abordnung von vier Herren (Carl Gut, Josef Zelger, Adolf und Hans von Matt) mit den beiden Künstlern in Verbindung treten, damit der eine den Text auf Frauenrollen abändere und der andere die Musik auf die vorhandenen Instrumentalstimmen umschreibe. Gleichzeitig sollte die Abordnung auch die Kostenfrage klären. Der Mission war ein voller Erfolg beschieden. Nicht nur erklärten sich Autor und Komponist bereit, die Änderungswünsche vorzunehmen, sie verzichteten zudem auch auf jegliches Honorar. Gegen die Verabreichung eines angemessenen Trinkgeldes hatten sie nichts einzuwenden. Darauf beschloss der Orchesterverein am 20. April in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der übrigen Mitwirkenden, in der kommenden Fasnacht 1900 die Märchenoper mindestens sechs Mal aufzuführen, eventuell auch noch im darauf folgenden Herbst zwei Mal. Die Vorbereitungen für die Realisierung hat man verschiedenen Kommissionen übertragen, von deren Arbeit wir in den Quellen nichts mehr hören. Doch müssen sich alle kräftig ins Zeug gelegt haben.

Grosserfolg: „Das Zauberschloss“

Nach heutigen Vorstellungen etwas spät nahm der Orchesterverein die Probenarbeit für die Theaterproduktion auf, nämlich erst am 17. November 1899. An diesem Tag heisst es im Protokoll lakonisch: «Es wird beschlossen, nunmehr die Oper ‘Das Zauberschloss’ in Angriff zu nehmen.»

Offenbar hatte man aber die Schwierigkeiten doch etwas unterschätzt. Es waren im Dezember 1899 und im Januar 1900 einige Zusatzproben notwendig, bis das Ganze aufführungsreif geworden war. Neben der Probenarbeit galt es die weiteren Aufgaben zu erledigen, die eine Theaterproduktion in den letzten Wochen vor der Premiere so mit sich bringt. Es brauchte dazu manches aufmunternde Wort des Präsidenten Carl Gut und des Dirigenten Josef Zelger, um die Leute bei der Stange zu halten.

Schliesslich aber war es soweit: am 27. Januar fand die Hauptprobe statt, zu der die Kinder der fünften und sechsten Primarklasse sowie die Sekundarschülerinnen und -schüler samt ihren Lehrkräften freien Eintritt erhalten hatten. Wie es sich für diesen Anlass gehört, klappte nicht alles. Mancher Lacher war eigentlich nicht vorgesehen. Weil beispielsweise ein Witzbold dem Posaunisten in der Pause die Noten vertauscht hatte, tönte die Introduktion zum dritten Akt so fürchterlich, dass der Dirigent abbrechen und nochmals beginnen musste. Die anmutige Elfen-Stimmung war damit natürlich dahin.

Kostümierte Sängerinnen und Sänger der Märchenoper im Gruppenbild.

Umso besser ging es an der Premiere. In der «Neuen Zürcher Zeitung» rühmt Isabelle Kaiser: «Das einheimische Orchester leistete vorzügliches». Erst recht hat es ihr die Märchenoper an sich angetan. Voll Begeisterung rühmt sie: «Dass der vielversprechende Titel ‘Das Zauberschloss’ auch sein Wort hält, ist wohl das schönste Lob, das dem Werk und der Darstellung zugeteilt werden kann. Der Zauber ruht in den sinnigen, melodiösen Weisen, die im Elfenchor, im Lied der Zwerge, in der Ballade zum Schloss emporranken. Er liegt in der Liebe schön Ännchens zum kecken Wandergesellen, er hüllt uns ein mit den naturfrischen Stimmen der Sänger, er lockt uns aus den humorvollen Gesängen des prächtigen Wirtes, er blickt uns an mit grossen märchenhaften Augen aus Musik und Dichtung.» Auch das «Nidwaldner Volksblatt» ist voll Anerkennung für die Dichtung, die der Kritiker «h» in die Nähe des damals äusserst beliebten Schriftstellers Ferdinand Raimund rückt; viel gerühmt wird auch die Musik aus der Feder des talentierten Schülers von Ferdinand Hiller und die Inszenierung, die in ihren stimmungsvollen Bildern an die Zeichnungen Ludwig Richters erinnere. Grosses Lob den ausführenden Vereinen und dem «unermüdlichen Dirigenten».

Die Märchenoper war ein Erfolg. Ihn hatten aber auch die 58 Personen auf der Bühne und die 15 Musikanten im Orchestergraben verdient. Das Theater war an allen sieben Aufführungen ziemlich ausverkauft. Rund 2500 Besucher sahen sich das «Zauberschloss» an. Extra-Züge von Engelberg und Stansstad brachten sie nach Stans, dazu an einzelnen Tagen Extra-Schiffe von Luzern. «Die drei Vereine dürfen auf eine Leistung zurückblicken, die von Aufführung zu Aufführung sich steigernden Beifalles erfreute und am letzten Sonntag im einstimmigen Jubelruf gipfelte», weiss das Nidwaldner Volksblatt am 3. März zu berichten. Das gemeinsame Unternehmen liess die drei Vereine am 21. Februar 1900 (am Mittwoch vor dem Schmutzigen Donnerstag) auch als Veranstalter des «Grossen Maskenballes» im Hotel Engel auftreten, wofür sie als Ballmusik 14 Mann der Stadtmusik Luzern engagiert hatten. Und selbstverständlich gab es auch einen Schlussabend am Güdisdienstag (27. Februar 1900), «eine gemütliche Feier», in welcher Verhörrichter Arnold Odermatt Komponist und Dichter hochleben liess, und jene die Ausführenden mit ihren Präsidenten samt musikalischer Leitung. Die Ouvertüre erschien 1901 als Klavierauszug im Druck.

Weniger gross war der materielle Erfolg. Einnahmen von Fr. 4750.– standen Ausgaben von Fr. 3510.– gegenüber, was einen Überschuss von Fr. 1240.– brachte. Gemäss beschlossenem Verteilerschlüssel erhielt der Orchesterverein davon knapp 500 Franken. Dieser aber hatte mindestens mit dem Anderthalbfachen gerechnet. Das schmerzte.

Fabiola

Doch allen Unkenrufen zum Trotz beteiligte sich der Orchesterverein zwei Jahre später wieder in grösserem Umfang an einer Theaterproduktion. Die Stanser Theatergesellschaft hatte das Drama «Fabiola» von Hans von Matt in fünf Akten auf den Spielplan gesetzt. Dieses hatte die Christenverfolgung unter dem römischen Kaiser Diocletian zum Hintergrund und zeigte «die Seelenkämpfe einer vornehmen Römerin namens Fabiola, die durch ein Meer von Leid und Enttäuschung an die Ufer des Friedens gelangt. Die stolze heidnische Frau bricht vor Gott ins Knie und stirbt als Christin». Zu diesem Theaterstück hatte Karl Detsch die Zwischenaktmusik und einzelne Chöre geschrieben.

Die Titelheldin Fabiola im gleichnamigen Drama in fünf Akten von Hans von Matt, in welchem der Orchesterverein die reiche Bühnenmusik von Karl Detsch zum Besten gab.
Handzettel zu "Fabiola"; sie wurde während der Fasnacht 1902 im Stanser Theater gegeben und rührte alle Besucherinnen und Besucher zu Tränen.

Der Berichterstatter im Nidwaldner Volksblatt schreibt über die Ouvertüre: «Irdische Liebe und Leidenschaft umranken in glühenden Farben das Motiv des Kaisermarsches und werden bald von ernst klingenden Sätzen unterbrochen, bald von Tönen wie aus einer andern Welt überschwebt, die nach und nach die Oberhand gewinnen und zur Verklärung führen. So ist das Vorspiel ein Stimmungsbild des Dramas selbst.» Gewitterstimmung, Gauklermusik, Mondnacht («Violoncell-solo, begleitet von reichem Tremolo der Violinen ruft Mondnachtstimmung in unser Herz»), heroischer Kaisermarsch und ein melodramatisches Finale (Beethovens Musik zu Goethes «Egmont» lässt grüssen) können als weitere Musikstücke aus der Besprechung herausgelesen werden, welche das Orchester während der aufwendigen Bühnenumbauten spielte. Zusammen mit einem «prachtvollen Frauenchor», mit Soldaten- und Bauernfängerliedern und dem «anmutsvoll vertonten» Liebesleid machten sie eine ausgewachsene Bühnenmusik aus, wie solche im 19. Jahrhundert üblich waren. «Das Orchester mit seinem tüchtigen Dirigenten, das die teilweise sehr schwierige Musik vortrefflich wiedergibt, verdient alles Lob.» Mehr ist hier nicht beizufügen.